Digitalisierung ist mehr als iPads anschaffen
Eine Bekannte von mir – ihrerseits Grundschullehrerin – berichtete vor einiger Zeit, dass ihre Schule nun über 30 iPads verfügen würde. Dies erscheint ja zunächst ein Fortschritt zu sein, aber so richtige Freude wollte nicht aufkommen. Was ist das Problem? Niemand weiß so richtig, was mit den Geräten anzufangen sein soll.
Ich kann diese Schwierigkeit vollständig nachvollziehen. Der Vorgang steht plakativ für den Kern eines grundsätzlichen, politischen Missverständnisses: Digitalisierung ist viel mehr als Geld für Technik.
Um bei dem Beispiel meiner Bekannten zu bleiben: Wenn man Jahre lang mit analogen Mitteln Unterricht gestaltet hat, so ist der Umstieg auf ein iPad nicht nur ein neues Medium – und auch keine Frage einer persönlichen Affinität zur Technik. Hier muss eine gänzlich neue Didaktik her, die Anforderungen an die Eltern sind neu, die Systeme müssen gewartet, das Management der Daten gesichert werden. Die Verwaltung des Lehrbetriebs gewinnt einen völlig neuen Charakter.
Voraussetzung für die Nutzung der Technik ist somit der Abschluss eines umfänglichen Veränderungsprozesses, sowohl für die Lehrer als auch die Institution Schule als Ganzes. Und das gilt nicht nur für das Erschließen neuer Potenziale, die der Technikeinsatz bergen kann, sondern überhaupt für die Aufrechterhaltung eines Schulbetriebs, der genauso gut ist wie zuvor.
Digitalisierung ist eine Haltungsfrage
Die Dimension der Herausforderungen wird seitens der Politik noch nicht einmal ansatzweise erfasst. Digitalisierung wird – unabhängig davon, ob wir über Unternehmen oder öffentliche Einrichtungen sprechen – nicht durch Millardenbudgets und einen entschlossenen Digitalisierungsaufruf hergestellt. Digitalisierung ist eine Haltungsfrage.
Digitalisierung erfordert ein neues Bild der Gesellschaft und des Menschen in ihr: Wie Unternehmen funktionieren, wie wir arbeiten, wie wir Verträge schließen, wie wir die Solidargemeinschaft aufrecht erhalten. Und nicht zuletzt: Wie wir unsere Kinder ausbilden.
Die Tatsache, dass diese Perspektive auf Digitalisierung in der Politik noch keinen Niederschlag gefunden hat, erleben wir als Digitalisierungsdienstleister bereits seit mehreren Jahren. Für uns stellt sich dies so dar, dass unseren Bemühungen Unternehmen und Institution auf ihrem Digitalisierungspfad zu unterstützen, eher Steine in den Weg gelegt werden, als dass wir Hilfe fänden.
Um dies konkreter zu machen, seien einige Hürden beschrieben, die der Digitalisierungsbranche und den Digitalisierungswilligen in den letzten Jahren seitens der Politik in den Weg gelegt wurden – oder gegen deren Überwindung sich systematisch gewehrt wird. Hürden, die nicht so offensichtlich sind, wie fehlende finanzielle Mittel – deren Auswirkungen jedoch für die Gesamtentwicklung fatal sind. Ich vage die These, dass den politisch Handelnden der Zusammenhang zwischen ihrem Tun (oder ihren Versäumnissen) und dem Scheitern der Digitalisierung vermutlich noch nicht einmal hinreichend klar ist.
Arbeitnehmerüberlassung – am Ziel vorbei geschossen
Die Novellierung des Gesetzes zur Arbeitnehmerüberlassung hat in der IT-Branche für maximale Verwirrung gesorgt und führt zu den skurrilsten Blüten. Sinn und Zweck der Gesetzgebung sind nach meinem Verständnis, dass dadurch in Arbeitnehmerüberlassungsverhältnissen unfaire und prekäre Arbeitsverhältnisse verhindert werden sollen. Gleichzeitig ist es das Ziel, Niedriglohndienstleistung in faktischen Arbeitnehmerüberlassungsverhältnissen auszuschließen. All das ist gut und richtig.
Das Ziel wird nun mit Mitteln verfolgt, die die Digitalisierungsbranche wie ein Hammerschlag treffen. Die zeitgemäßen Arbeitsweisen erzwingen die enge Zusammenarbeit zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer – was ganz schnell aus juristischer Sicht den Beigeschmack von Arbeitnehmerüberlassung erhält. Gleichzeitig sind alle Beteiligten bestens bezahlt (weit von Ungleichheit und Prekariat entfernt) und die Mitarbeiter der Dienstleister haben nicht das geringste Interesse für einzelne Projekte wie ein Arbeitnehmer des Auftraggebers behandelt zu werden. Gerade die Menschen in der Softwareentwicklung betrachten sich als hochqualifizierte Beratungskompetenzen, deren Selbstverständnis sich mit dem Begriff „Leiharbeit“ kaum überein bringen lässt.
Nach welchen Kriterien in einer potenziellen Prüfung was entschieden wird ist völlig unklar. Dementsprechend sind die risikominimierenden Maßnahmen in den jeweiligen Auftraggeber-/Auftragnehmerbeziehungen gänzlich unterschiedlich, immer schädlich für die Zusammenarbeit und für alle Beteiligten sinnbefreit. Ich habe hier schon alles erlebt: von dem Kommunikationsverbot bis hin zu Raumtrennung per Absperrband … war es das, was der Gesetzgeber vor Augen hatte?
Solche Aktivitäten – juristisch wie operativ – kosten viel Geld, Kraft, Zeit und Nerven. Sie behindern die Geschäftsbeziehungen und den Digitalisierungsfortschritt in Deutschland.
Sozialversicherungsgesetzgebung – der Bock ist der Gärtner
Wir waren jahrelang gewohnt mit Freelancern zusammen zu arbeiten. Obwohl die Gesetzgebung sich im Kern nicht verändert hat, wurde dies immer problematischer: Einzelunternehmertum ist politisch erkennbar nicht gewollt. Mit der Instanziierung der Deutschen Rentenversicherung zum Entscheider der Frage, ob eine Tätigkeit selbstständig oder scheinselbstständig ist, hat man den Bock zum Gärtner gemacht. Wie kann der Verwalter der staatlichen Rente derjenige sein, der darüber entscheidet, ob in die Rentenkasse einzuzahlen ist? Das ist an Absurdität kaum zu überbieten. Das Ergebnis ist entsprechend: wann immer ein Feststellungsverfahren zur Klärung des Sozialversicherungsstatus mit dem Ziel angestrebt wird, die eigene Selbstständigkeit zu legitimieren, ist ein abschlägiges Urteil der Rentenversicherung zu erwarten. Es bleibt dann der Klageweg, der gerne mehrere Jahren dauern kann.
Auch hier gilt: ich verstehe und unterstütze die Kernidee. Aber warum muss ich mir als Unternehmer Gedanken über den Sozialversicherungsstatus eines Freelancers machen, der sich explizit nicht anstellen lassen will? Und der typischerweise zwischen 600 € und 1.000 € Tagessatz erhält? Seine Willensentscheidung ist eindeutig und die Mittel für eine Altersvorsorge verdient er allemal. Dennoch liegt das Risiko für seine Entscheidung bei mir als Unternehmer – im schlimmsten Fall sogar persönlich.
Damit fallen für mich Freelancer bis auf ganz wenige Einzelfälle als Unterstützung in Digitalisierungsprojekten aus – und dies angesichts eines dramatischen Fachkräftemangels. Das deutsche Sozialversicherungswirrwarr mit dutzenden von gesetzlichen Versicherungen, Privatversicherungen, Beamten, Ständeversicherungen und Spielarten der Versicherungsfreiheit verstärkt an dieser Stelle den Fachkräftemangel und behindert direkt die Digitalisierungsbemühungen der Wirtschaft.
Ausschreibungsrecht – ein teurer Anachronismus
Ausschreibungen im öffentlichen Dienst sind in der gelebten Form ein Anachronismus, der der Volkswirtschaft nachhaltigen Schaden zufügt. Aus Sicht des Softwareentwicklungsdienstleisters stellt sich dies wie folgt dar: die Branche hat in den letzten 25 Jahren gelernt, dass es bei der Entwicklung von Software nie gelingt, anfangs exakt zu beschreiben, was die Ergebnisartefakte sein sollen. Aber an diesem Ansatz wird seitens der öffentlichen Institutionen – maßgeblich erzwungen durch das Ausschreibungsrecht – meistenteils noch sklavisch festgehalten.
Was passiert dann also in der Praxis? Als Dienstleister muss man lediglich bestätigen, dass man das liefert, was zuvor mit viel Aufwand beschrieben worden ist. Sehr häufig gilt nun der Preis als der einzig relevante Entscheidungsparameter. Wenn man es sich leisten kann durch die zusätzliche Bepreisung von Veränderungsanfragen über die Laufzeit des Vertrags letztlich seine Marge zu erwirtschaften, dann bietet man eingangs einen Kampfpreis an. Der Auftraggeber – der natürlich nicht vollständig beschrieben hat, was er will – kann so über die Veränderungsanfragen zum ursprünglichen Ausschreibungsinhalts bis auf das Blut geschröpft werden. Es geschieht, was wir alle kennen: Budgets platzen, die Zeitlinien geraten außer Kontrolle.
Vorgänge dieser Art sind uns ja nicht nur aus dem Digitalisierungskontext vertraut. Ich könnte auch dutzende von öffentlichen Bauvorhaben benennen, die nach demselben Schema finanziell und in ihren Zeitverläufen gescheitert sind. Wieviel öffentliche Mittel müssen vernichtet werden, damit der Gesetzgeber merkt, dass Projekte mit komplexen Zügen so nicht zu beherrschen sind?
Es bleibt das Argument, dass das Ausschreibungsrecht einer Vetternwirtschaft vorbeugt. Wer das tatsächlich glaubt, sei dazu eingeladen, mal an einer komplexen Ausschreibung der öffentlichen Hand als zuvor vollständig unbekannter Dienstleister mitzuwirken. Dann merkt man, dass es hier – trotz Ausschreibungsrecht – so ist, wie überall: Geschäfte werden zwischen Menschen gemacht. Damit dadurch kein Schaden entsteht, gibt es aber andere Möglichkeiten als das Ausschreibungsrecht: Unternehmen sind mit flexibler zu handhabenden Compliance-Richtlinien durchaus erfolgreich.
Der Wille zur Veränderung
Ich merke, dass ich in Rage gerate. Die Ausführungen lassen sich umfänglich fortsetzen: Vertragsrecht, Arbeitsrecht, Urheberrecht, Datenschutz, Regelungen zur betrieblichen Mitbestimmung, Blüten des Föderalismus … der Politik ist es in den letzten 20 Jahren schlichtweg entgangen, welche Veränderungen sie herbeiführen müsste, um die Digitalisierung in Deutschland zu stützen.
Wenn wir diesen Weg beschreiten wollen, benötigen wir den politischen und gesellschaftlichen Willen, grundsätzliche Parameter unseres Wirtschafts- und Soziallebens zu überdenken. Dabei dürfen wir nicht davor zurückschrecken, auch Aspekte in Frage zu stellen, die lange bewährt erschienen. Ich hoffe, dass die genannten Beispiele dies zumindest in Ausschnitten deutlich machen.
Corona schafft Bewusstsein
Die Corona-Krise wirkt nun derzeit wie ein Brennglas auf das fehlende Verständnis der Politik im Hinblick auf ihre Rolle in der Digitalisierung und zerrt die Problematik stärker in die Öffentlichkeit. Corona-App, Digitalisierung der Gesundheitsämter, Prozesse zur Einbindung der Hausärzte, das Anmeldewesen zur Impfung – die öffentliche Hand bietet uns hier ein eher klägliches Schauspiel.
Das Problem ist im Kern dasselbe wie bei meiner Bekannten: Geld und motivierende Aufrufe schaffen keine Grundlage für Digitalisierung. Um der Herausforderung wirklich gerecht zu werden, müsste die öffentliche Verwaltung binnen Monaten einen Transformationsprozess durchlaufen, der in vergleichbar großen Unternehmen Jahre gewährt hat. Und der – wie zuvor beschrieben – durch die bestehende Gesetzeslage im Falle der Verwaltung wahrscheinlich nicht nur massiv behindert sondern gar unmöglich gemacht wird.
So unselig die Krise für uns alle ist: Ich habe die vage Hoffnung, dass durch Corona hier gerade Bewusstsein geschaffen wird, auf dessen Eintreten wir ansonsten noch Jahre hätten warten dürfen.
Wir müssen gemeinsam Lösungen finden
Nur Meckern ist keine Lösung. Ich stelle mir immer wieder die Frage, welchen Beitrag Menschen, die sich in Kontexten wie ich bewegen, leisten können. Denn Eines erscheint klar: auf der Ebene der Politik sind wir unterrepräsentiert und könnten – sollten! – mithelfen. Das Engagement in einer etablierten politischen Partei fällt mir schwer, da ich in den bestehenden Systemen kaum eine Chance für einen Quereinstieg sehe. Parteien am Rande des politischen Spektrums kommen für mich nicht in Frage. Und das Tagewerk in unserer Unternehmung nimmt mich vollständig in Beschlag. Dennoch möchte ich nicht schicksalsergeben sein und bleibe auf der Suche nach Optionen. Denn mein größter Wunsch ist, dass wir aus der Krise etwas Gutes mitnehmen: Die gemeinsame Erkenntnis, dass wir die Welt mit neuen Augen sehen müssen und dies sich in einem Willen zur Veränderung widerspiegelt!