8 Fehleinschätzungen in der agilen Transformation (Teil 1/2)
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8 Fehleinschätzungen in der agilen Transformation (Teil 1/2)

28.01.2022 Posted 2 Jahren ago Dr. Stefan Barth

“Wir werden jetzt mal agil!” Dieses Ziel klingt deutlich einfacher als es ist, denn auf dem Weg der agilen Transformation gibt es zahlreiche Stolpersteine. Ich möchte in diesem Artikel einige davon vorstellen.

Fehleinschätzung 1: Agilität ist alter Wein in neuen Schläuchen

Agiles Management ist nicht vom Himmel gefallen. Natürlich gab es in der Entwicklung der Management- und Organisationskultur Strömungen und Entwicklungen, die nun in das, was wir heute als agiles Management begreifen, eingeflossen sind. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass der bewanderte Manager den einen oder anderen Teilaspekt wiedererkennt.

Tatsächlich muss man das Thema heute jedoch in einem größeren Zusammenhang sehen. Kernprinzipien des agilen Managements wurden in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts im Umfeld der Informationstechnologie entwickelt. Dies kommt nicht von ungefähr: bereits zu dem Zeitpunkt zeichnete es sich bereits in gewissen Märkten ab, dass klassische Planungs- und Entwicklungsansätze den bestehenden Gegebenheiten nicht mehr gerecht wurden.

Der Treiber für diese Entwicklung war bereits damals der rasante Fortschritt in der Informationstechnologie. Hierdurch entstanden neue Geschäftsmodelle und bestehende Geschäftsmodelle wurden – in der Frühzeit nur sehr langsam und weniger disruptiv – angegriffen. Um in einem solchen, stark veränderlichen und unsicheren Umfeld handlungsfähig bleiben zu können, konsolidierten sich verschiedene Managementschulen zu dem, was wir heute unter agilem Management verstehen.

Die zunehmende Bedeutung dessen, was wir als Digitalisierung bezeichnen, hat das Thema Agilität nochmal an Bedeutung gewinnen lassen. Wenn IT das Rückgrat der Unternehmen wird – sei es dadurch, dass die notwendige Produktionseffizienz nur durch state-of-the-art IT erreicht wird, sei es, dass das Geschäftsmodell selber auch in der Außenwahrnehmung durch IT bestimmt wird – dann ist diese Situation nur durch Managementansätze zu beherrschen, die auf das Lösen komplexer Probleme in schnell veränderlichen Ökosystemen ausgerichtet sind. Und damit sind wir bei der Agilität.

Wenn das durch Taylor formulierte Scientific Management das Erfolgsrezept für Unternehmen in der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts war, dann ist das agile Management die Grundlage für eine vielversprechende Zukunft im Zeitalter der Digitalisierung.

Fehleinschätzung 2: Agilität ist Methode, lass uns erstmal Scrum und Kanban lernen

Häufig ist der erste Schritt einer Organisation in der Auseinandersetzung mit Agilität der Wunsch, Entwicklungsteams agil aufzustellen. Das Bild agilen Vorgehens reduziert sich auf die rein methodische Implementierung von Scrum.

Diesem Ansatz folgend gestaltet sich auch die Adressierung von Partnern, die bei diesem Veränderungsprozess unterstützen könnten: Wie führen wir Scrum bei uns ein? Wie funktionieren Jira und Confluence? Kann ich auch auf dieser Basis das vom Management gewünschte Reporting abbilden?

Konfrontiert mit diesem Wunsch stelle ich als erstes die Frage: Warum wollt ihr Scrum einführen? Was ist Euer Ziel? Mögliche Antworten auf diese Fragen sind:

Das Management verspricht sich von agilem Vorgehen höhere Produktivität, schnellere Time-to-Market, geringere Entwicklungskosten,
Die Mitarbeiter wollen das. Wir sehen eine Modernisierung unseres Vorgehens als essenziell an, um unsere Leute halten zu können und neue zu gewinnen,
Soweit wir Agilität verstanden haben, wird es uns helfen, die an uns gerichteten Anforderungen besser bewältigen zu können.
Die Auflistung ist nicht erschöpfend. Aber eines macht sie klar: Scrum kommt darin nicht vor. Es besteht eher ein diffuses Bild davon, dass mit agilen Methoden in irgendeiner Form eine Verbesserung der aktuellen Situation erzielt werden kann. Sobald dies dem Gesprächspartner klar wird, ist der Brückenschlag zur allgemeineren Diskussion agiler Werte – unabhängig der Methode – herbeigeführt. Die Erkenntnis wächst, dass offensichtlich die Voraussetzung für den Erfolg spezifischer Methoden ein neuer Denkansatz ist, der vor allem anderen vermittelt werden muss.

Fehleinschätzung 3: Ich als Manager bin schon total agil – respektvoll gegenüber Mitarbeitern, frei von Micromanagement, voller Vertrauen und fähig zu echter Delegation

Das Verständnis dessen, was agiles Management bedeutet, ist häufig in den Unternehmen auf Managementebene sehr schlecht entwickelt – erstaunlicherweise auch dann, wenn man sich bereits dazu entschieden hat, eine agile Transformation vorwärts zu treiben. Aber natürlich entspricht es nicht dem Selbstverständnis des Managers, einen Veränderungsprozess angestoßen zu haben, den er in seinen Konsequenzen (auch für ihn selbst) nicht vollumfänglich erfasst.

Dem zur Folge sieht er sich natürlich auch an der Spitze der Bewegung und vermittelt mit großem Selbstvertrauen, dass er die agilen Prinzipien bereits inkorporiert hat. Auf die direkte Ansprache hin suggeriert er – und dies auch in dem festen Glauben, dass es so wäre – großes Vertrauen in die Mitarbeiter, Transparenz der Entscheidungen, Fehlertoleranz, Teamwork auf Managementebene, eher Coaching als Controlling im Innenverhältnis.

Eine Sondierung im Unternehmen liefert dann schnell ein anderes Bild. In Form von Präsentationen werden regelmäßige Statusberichte erstellt und dem Management vorgetragen. Die Mitarbeiter fürchten eine offene Kommunikation von Fehlentwicklungen, weil sie dann zusätzlichen Druck zu erwarten haben. Protokolle bleiben geheim und Informationen werden nur geteilt, wenn man davon ausgeht, dass der Empfänger sie für die Ausführung seiner Tätigkeit benötigt.

Fehleinschätzung 4: Das mittlere Management hat in der agilen Transformation nichts zu befürchten – es gibt genügend sinnvolle, neue Aufgaben

Dies ist ein häufig vermitteltes Credo in der Anfangsphase agiler Transformationsprozesse. Es richtet sich an das verängstigte, mittlere Management, das grundsätzlich Schwierigkeiten hat, seine Rolle in einer agilen Organisation zu sehen.

Aus meiner Sicht ist es wichtig, hier ehrlich zu sein – und der oben genannte Satz suggeriert eine Sicherheit, die es für das mittlere Management nicht gibt. Und besonders ärgerlich ist daran, dass die betroffenen Menschen wirklich nichts dafür können.

Das Problem sind die Mechanismen, durch die in klassisch geprägten Organisationen Führungskräfte ausgewählt und entwickelt werden. Die Erwartungen, die an die Mitarbeiter mit Führungsaufgaben gerichtet werden, sind je nach Organisationsausprägung gänzlich anders, als die, die man in einer agilen Organisation in dieser Rolle verorten würde.

Während in einer agilen Organisation Führungskräfte Coaching-Kompetenzen, Transparenz, Offenheit und Bereitschaft zu vertrauen mit sich bringen müssen, führen in tradierteren Strukturen eher Neigungen zu starker, teambezogener Interessenvertretung, zu gezieltem Wissensmanagement, zu fachlicher/prozessualer Anleitung der Mitarbeiter und zur Etablierung effizienter Kontrollmechanismen zum Erfolg.

Dieser neue Anspruch im Hinblick auf die persönliche Weiterentwicklung als Voraussetzung für den zukünftigen Erfolg in einer veränderten Organisation muss den Vertretern des mittleren Managements in aller Klarheit deutlich gemacht werden. Eine enge Begleitung und permanentes Feedback ist erforderlich, damit die Führungskräfte überhaupt eine Chance haben, diesen Weg zu gehen.

Hierbei muss regelmäßig hinterfragt werden, ob die Führungskraft ihrerseits auch weiterhin willens ist, sich dem Neuen zu stellen. Wenn dies nicht mehr der Fall ist, gilt es faire Ausstiegs- oder Umstiegsszenarien gemeinsam mit dem Mitarbeiter zu entwickeln. Und wenn man ehrlich ist – dieser Fall wird nicht die Ausnahme sein.

Offensichtlich gehen in einer solchen Situation das Selbstbild und das Fremdbild des Managers weit auseinander. Die Ursache dafür ist relativ einfach zu fassen: die Kernprinzipien agilen Managements in Form von Vertrauen, Transparenz, eher Anleitung als Direktion sind sehr positiv besetzt. Es kann kaum dem Selbstverständnis eines Managers entsprechen, hier die Aussage zu treffen: ich vertraue meinen Mitarbeitern nicht, dem zur Folge teile ich auch keine Informationen und am liebsten sage ich allen, was sie tun sollen, weil ich ja sowieso am besten weiß, was richtig ist.

Dieser Situation Herr zu werden, ist tatsächlich außerordentlich schwierig. Um hier eine Übereinstimmung zwischen dem Eigenbild des Managers und den Erwartungen an seine Rollenwahrnehmung in einer agilen Organisation herzustellen, bedarf es intensiver Begleitung und vor allem eines sehr vertrauten und offenen Verhältnisses zwischen Coach und Manager. Der Einstieg in die Zusammenarbeit muss sehr behutsam sein, da zunächst – als grundlegende Voraussetzung für jedweden Erfolg – beim Manager ein Störungsbewusstsein erzeugt werden muss. Erst dann wird er die Anregungen zur Änderung seines Verhaltens annehmen und in eine neue Rollenwahrnehmung reinwachsen können.

Mehr zum Thema „Fehleinschätzungen in der agilen Transformation“

Im zweiten Teil der Blogserie erfahren Sie vier weitere Fehleinschätzungen in der agilen Transformation.

Hier gibt’s den passenden Votrag von Dr. Stefan Barth von der Transform to Agile 2021.

Dr. Stefan Barth

Dr. Stefan Barth, Unternehmer, COO und Agile Coach, setzt sich für agile Werte auf jeder Ebene ein. Er weiß, wie Unternehmen von der agilen Transformation profitieren – wirtschaftlich und menschlich.

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