Weg mit den Rollenbeschreibungen!
Rollenbeschreibungen sollen dazu dienen, die Aufgaben eines Mitarbeiters zu umreißen. In der Grundidee hilft dies den Mitarbeitern und Vorgesetzten, die beidseitigen Erwartungen an den Mitarbeiter zu normieren. Aber seien wir ehrlich zu uns: Gelingt dies wirklich in komplexen, wissens- und dienstleistungsorientierten Arbeitsverhältnissen? Wird der Mitarbeiter tatsächlich in seiner Leistung an seiner Rollenbeschreibung gemessen und leitet er die Erwartungen an sich selbst daraus ab?
Meine These ist: Es ist nicht nur der Fall, dass Rollenbeschreibungen insofern keinen Nutzen entfalten. Vielmehr sind sie in vierlerlei Hinsicht sogar toxisch für eine Organisation.
Unklarheit verhindert Nutzen
Grundlegend vorweg gestellt sei die Überlegung, was eine Rollenbeschreibung – über das oben bereits Gesagte hinaus – eigentlich ist. Zunächst einmal handelt es sich um den Versuch eine Rolle zu definieren und Definitionen lassen sich typisieren, z.B. nach dem Ansatz von Karl Popper [1]. Er unterscheidet zwischen essentialistischen und normativen Definitionen. Der Unterschied zwischen diesen beiden ist leicht erläutert:
- Die essentialistische Definition geht auf die Ideenlehre von Platon zurück. Bezogen auf unser Thema heißt dies, dass es ein Ideal der Rolle (und damit der Rollenausübung) gibt. Alle weltlichen, wahrnehmbaren Projektionen sind nur eine schlechtere, zwangsläufig unvollständige Abbildung des Ideals. Dies gilt dann auch für die spezifische Rollenbeschreibung.
- Die normative Definition wählt einen anderen Ansatz. Sie hat mit der Aufklärung ihren Eingang in die Wissenschaftstheorie gefunden und dient primär der semantischen Vereinfachung. Bezogen auf unseren Kontext: Ich beschreibe detaillert sämtliche Tätigkeiten, die ein Mitarbeiter auszuüben hat und fasse diese Liste unter einem Begriff zusammen, den ich dann seine Rolle nenne. Für die Gültigkeit ist in der Folge maßgeblich, dass der Mitarbeiter nicht mehr leistet als das, was auf der Liste steht, aber auch nicht weniger.
Nun fragen wir uns selbst: Welche Form von Definition liegt vor, wenn wir eine Rolle durch eine Rollenbeschreibung definieren?
Die normative Definition kommt nicht in Frage. Ein solches Verständnis würde erfordern, dass man sämtliche Tätigkeiten in einem Unternehmen auflisten und benennen könnte. Dies ist offensichtlich nicht machbar.
Bleibt also die essentialistische Definition. Diese kommt der gelebten Wirklichkeit sehr nahe: Wenn wir die Rollenbezeichnungen „Senior Software Developer“, „Junior Controller“ oder „Abteilungsleiter IT“ hören, entsteht ein Bild in unserem Kopf, was wir von jemanden erwarten, der diese Rolle einnimmt. Versuchen wir gemeinsam dieses Bild zu beschreiben, bleibt immer ein erheblicher, subjektiver Rest übrig – das Delta zwischen unserer persönlichen Idealvorstellung und der formulierten Rollenbeschreibung.
Wie kann aber ein Artefakt als Maßstab dienen, wenn es sich durch beliebig große Auslassungen und typischerweise auch noch durch Deutungsspielräume* auszeichnet? Ein Nutzen ist unter diesen Voraussetzungen weder für den Mitarbeiter, noch für den Vorgesetzten und auch nicht für das Unternehmen erkennbar.
Nicht nur nutzlos, sondern toxisch
Soweit habe ich den Versuch unternommen herzuleiten, warum ich Rollenbeschreibungen als unnütz empfinde. Kommen wir nun zur verschärften These: dass sie darüber hinaus toxisch in der Organisation wirken.
Ein Effekt ist offensichtlich: Sie erzeugen einen erheblichen Aufwand. Alle Rollen wollen beschrieben werden, das Vorlagenmaterial erfordert kontinuierliche Pflege. Jede Rollenveränderung eines Mitarbeiters ist darüber hinaus ein administrativer Akt, der internen Aufwand erfordert. Das Unternehmen wäre erfolgreicher, wenn die mit dieser Aufgabe betreuten Mitarbeiter die Gelegenheit hätten, sich wirklich wertschöpfend einzubringen.
Genau solchen Veränderungsprozessen stehen Rollenbeschreibungen aber entgegen: der Mitarbeiter, der sich um Rollenbeschreibungen kümmern soll, tut dies nicht mehr? Was nun? Rollenbeschreibung manifestieren Aufgabenkomplexe und behindern die aktive Weiterentwicklung von Mitarbeitern – und sei es nur in den Köpfen der Betroffenen, weil der administrative Prozess zur Rollenveränderung in der Organisation womöglich sogar gut funktioniert.
Rollenbeschreibungen sollen ja dazu dienen, die Erwartungen gegenüber dem Mitarbeiter zu formulieren. Wenn eine Organisation das tatsächlich so lebt, konzentrieren die Mitarbeiter sich im Kern auch auf die Tätigkeiten, die in der Rollenbeschreibung umrissen werden – denn das ist ja der Maßstab der Leistungsbemessung. Aber gibt es nicht vielleicht Themen, die der Mitarbeiter nebenläufig mit neuen Ideen, Kompetenz und großem Spaß ebenfalls begleiten könnte und die das Unternehmen weiter bringen? Lohnt es sich für den Mitarbeiter, sich mit so etwas zu beschäftigen? In einem System, in dem Rollenbeschreibungen ernst genommen werden, hat der Mitarbeiter nichts von einem solchen Engagement. Ganz im Gegenteil, schlimmstenfalls bricht er dadurch in fremde Domänen ein und erzürnt sogar Kollegen. Innovative Ideen werden unterdrückt, Talente der Mitarbeiter bleiben ungenutzt und es wird die Chance verpasst, Mitarbeiter in Tätigkeiten zu bringen, die ihnen mehr entsprechen und an denen sie wirklich Spaß haben.
Führungskräfte trifft es härter
Das Problem wird immer schwerwiegender, wenn die Rollenbeschreibungen abstrakter werden. Dies ist typischerweise bei Führungskräften der Fall. Von diesen erwartet man den Blick über den Tellerrand – was auch immer das heißen soll – und gerne auch die Fähigkeit „unternehmerisch zu denken und zu handeln“. Wolkiger und unbestimmter geht es eigentlich nicht.
Die so formulierten Erwartungen sind ein zweischneidiges Schwert. Zum einen ist es schwer zu bemessen, ob ein Mitarbeiter „unternehmerisch denkt“ oder an der „strategischen Unternehmensentwicklung“ sinnvoll mitwirkt. Auf der anderen Seite entsteht dadurch aber auch ein Anspruch der Führungskraft, der zukünftige Veränderungsprozesse nachhaltig erschwert. Denn die Niederlegung solcher Rollenmerkmale in einer Rollenbeschreibung manifestiert ja auch ein Mitwirkungsrecht – ob der Mitarbeiter dem in sinnvoller Weise nachkommt oder nicht ist tatsächlich erstmal zweitrangig. Der Anspruch bleibt.
Wird der Punkt erreicht, an dem die tatsächlichen Fähigkeiten der Führungskraft, gemessen an der Rollenbeschreibung, von der vorgesetzten Instanz negativ beurteilt werden, wird die Führungskraft dann – statt ihre Rolle an seine echten Kompetenzen anzupassen – auf einen Elefantenfriedhof abgeschoben.
Traurig an einer solchen Entwicklung ist insbesondere, dass die Führungskraft dies häufig als den richtigen Schritt empfinden wird. In ihrem durch die Organisation antrainierten Wertesystem erscheint es wichtiger, die managementorientierten Aufgaben im Profil zu erhalten als Wirkung im Unternehmen zu erzielen. Die Rollenbeschreibung ist das Manifest eines Status, den niemand gerne verlieren möchte.
Zugegebenermaßen begründet sich eine solche Entwicklung nicht aus der Existenz von Rollenbeschreibungen allein, aber sie sind ein relevanter Baustein eines Organisationsverständnisses, welches solche Wirkungen entfaltet.
Wenn’s denn schon Rollenbeschreibungen geben soll …
Ich hoffe, dass meine Ausführungen soweit Klarheit geschaffen haben, warum ich Rollenbeschreibungen für wenigstens unnütz, wenn nicht gar toxisch halte. Kommen wir nun zum konstruktiven Part dieser Erläuterungen.
Zugegebenermaßen sind Rollenbeschreibungen immer noch weit verbreitet. Gerade in Organisationen, wo das Vorgesetzten-Mitarbeiter-Verhältnis weniger durch gegenseitige Achtung, sondern durch Komponenten der Vorsicht bis hin zur Angst geprägt ist, bleibt der Gedanke einer beidseitigen Erwartungsnormierung als sicherheitsgebendes Element relevant. Dies kann sich als individuelles Artefakt auch allein auf einzelne Vorgesetzten-Mitarbeiter-Verhältnisse beziehen.
Diese Erwartungsnormierung sollte dann auch erfolgen – aber genau so, wie der Wortsinn es beschreibt: Als normative Definition in dem zuvor dargestellten Sinne. Beschreibt gemeinsam mit dem Mitarbeiter nur die klar zu umreißenden Aufgaben und seid Euch beiderseitig der Auslassungen und Unklarheiten in dem Verständnis der verwendeten Begriffe bewusst. Fangt die Unklarheiten in regelmäßigen Feedbackgesprächen über die gegenseitigen Erwartungen ab, um aus dem Gefühl der Unsicherheit des Verhältnisses ein Gefühl der Achtung werden zu lassen. Dann benötigt Ihr mittelfristig auch diese Krücke nicht mehr.
Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.
*Deutungsspielräume insbesondere auch deshalb, weil Rollenbeschreibungen häufig ihrerseits Begriffe enthalten, die ebenfalls beliebig unscharf sind – man denke nur an „Teamfähigkeit“, „Mitwirkung an der strategischen Unternehmensentwicklung“ o. Ä
[1] Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II Falsche Propheten: Hegel, Marx und ihre Folgen, Karl Popper, 8. Auflage 2003, Mohr Siebeck Verlag, S.22 ff.