“Wir arbeiten doch schon immer agil“
tarent Blog

"Wir arbeiten doch schon immer agil“

19.02.2020 Posted 4 Jahren ago Mario Meltzow

Was Agilität bedeutet und wie Menschen und Unternehmen davon profitieren

Wenn man mit Menschen über Agilität spricht, stellt sich schnell heraus: Viele verstehen unter Agilität etwas Unterschiedliches und Agilität als Buzzword ist schon ziemlich verbraucht. Man hört Aussagen wie: “Ich bin schon immer agil, denn wenn mein Chef mir sagt, dass ich etwas tun soll, dann mache ich das sofort.” oder “Ist das jetzt die aktuelle Sau, die man durchs Dorf treibt?”. Wenn man dann allerdings weiter nachfragt, merkt man schnell, dass in den meisten Fällen Agilität mit Spontanität verwechselt wird. Bei der Frage nach dem Grund für den Einsatz von Agilität kommen die ersten schon ins Grübeln.

Was ist denn nun diese “neue Agilität”?

Mit der tarent Academy, unserem Weiterbildungszweig, haben wir 2019 häufig unseren Workshop mit dem Titel “Agile hands on” durchgeführt. Darin stellen wir den Teilnehmenden direkt nach der Vorstellungsrunde als kleines Warm Up eine kurze Aufgabe mit dem trivialen Namen “Ball weitergeben”, die es gemeinsam zu lösen gilt. Dabei müssen sie, wie der Name schon sagt, einen Ball in einer bestimmten Reihenfolge so schnell wie möglich weitergeben, während die Zeit gestoppt wird. Das Ziel ist erreicht, wenn der Ball beim letzten Teilnehmenden angekommen ist. Ohne Tipps oder Feedback dazu erhält die Gruppe genau 60 Sekunden Zeit bis zu nächsten Runde, in der sie ihre eigene Zeit unterbieten soll. Unsere Beobachtungen zu dem Zeitpunkt sind oft ähnlich: In den ersten Sekunden schauen sich die Teilnehmenden erst einmal erstaunt an. Danach erwachen die Ersten recht schnell aus ihrer Schockstarre und man merkt, wer schon Erfahrungen in agilem Denken besitzt. Die ersten Verbesserungsideen werden laut vorgeschlagen und diskutiert. Aber Zeit ist Geld und die 60 Sekunden sind eine harte Timebox, d.h. es geht danach sofort weiter mit der nächsten Runde “Ball weitergeben”. Einige Hinweise von uns zur verbleibenden Zeit helfen, die Timebox zwischen den mehrmaligen Runden zu halten. Fast jedes Mal erreicht der Ball schneller den letzten Teilnehmenden. In der zweiten Runde wird meist die Zeit der Gruppen bereits halbiert.

Diese Übung hat zweierlei Hintergedanken. Erstens sorgt sie zu Beginn des Workshops für Auflockerung und gute Stimmung. Zweitens wenden die Teilnehmer sofort und ganz intuitiv den agilen Gedanken von “Inspect & Adapt” an. Bereits nach der ersten Wiederholung ist zu spüren, dass die Teilnehmenden sich weiter mit der bisher neuen Situation vertraut machen (“Inspect”), weitere Optimierungen selbstständig umsetzen (“Adapt”) und ihre Zeit weiter verbessern.

Das Agile Manifest

Um zu wissen, was Agilität ist, hilft keine Definition, sondern man muss die Werte dahinter verstehen. In der Softwareentwicklung hilft uns dabei das Agile Manifest.

Das agile Manifest

“Das heißt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite für wichtig halten, schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.”

Dieses Manifest aus dem Jahr 2001 wurde bereits von vielen tausend Menschen unterzeichnet. Hier nun eine Erläuterung zu den einzelnen Punkten des Manifests.

Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge

Im Alltag werden wir alle mit Prozessen und Werkzeugen konfrontiert. Ohne diese geht es einfach nicht. Die Idee, einen Ablauf zu standardisieren und mit Tools zu unterstützen, kann ja nicht verachtet werden. Allerdings behindern uns genau diese häufig oder machen sogar Nicht-Standard-Abläufe für uns unmöglich. Wie einfach und zeitsparender wäre es doch zum Telefonhörer zu greifen oder noch besser, direkt beim Kollegen oder Kunden vorbeizuschauen und das Ganze persönlich zu klären? Genau dies ist der Gedanke hinter “Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge”. Um das Ganze wieder “kompatibel” zum Prozess bzw. Werkzeug zu machen, kann man den Prozess auch nach der direkten Klärung noch entsprechend durchführen.

Funktionierende Software ist wichtiger als umfassende Dokumentation

Mal ehrlich, wer von uns hat sich das Handbuch seines Autos oder Smartphones durchgelesen? Beides sollte doch erst einmal möglichst selbsterklärend funktionieren. Erst wenn es dies nicht tut, wird die Dokumentation benötigt. Daher bringt es erst einmal nichts, eine umfassende Dokumentation zu erstellen. Diese Zeit sollte lieber auf die Entwicklung der Software bzw. die eigentliche Aufgabe fokussiert werden, während die Dokumentation mit einer niedrigeren Priorität erstellt werden kann.

Zusammenarbeit mit dem Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlungen

Keine Frage, Verträge sind wichtig und unumgänglich in der heutigen Zeit. Ähnlich wie Handbücher werden diese aber erst benötigt, wenn etwas nicht funktioniert bzw. es zu Streitigkeiten kommt. Zuerst sollten wir deshalb unseren Kunden zuhören und verstehen, was diese wirklich möchten. Im Anschluss können wir die Ziele des Kunden dann kooperativ realisieren. Vielleicht bedeutet dies, dass Unternehmen auf den ersten Blick nicht den höchsten Gewinn erzielen, weil sie ihren Kunden zu einer kleineren Lösung geraten haben. Dafür aber erhält der Kunde genau das, was er braucht und ist zufrieden. Und zufriedene Kunden kommen ja bekanntlich auch wieder und sprechen dazu noch positive Empfehlungen aus.

Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans

Projekte sind in der heutigen Zeit meist immer komplex und umfangreich. Dadurch entstehen gern Lastenhefte und Projektpläne von immensen Ausmaßen. Dienstleister und Auftraggeber versuchen darin alle möglichen Individualitäten, Störungen und Probleme zu identifizieren und das Verhalten im Problemfall festzuhalten. Die Idee ist gut, aber leider funktioniert das nur in der Theorie. Es werden Probleme und Herausforderungen auftreten, mit denen niemand bei der Erstellung des allumfassenden Plans rechnen konnte. Da der Aufwand zur Erstellung dieses Plans sehr hoch ist und der Plan sowieso nicht alle Optionalitäten abdecken kann, sollten wir uns die Frage stellen, warum wir das eigentlich machen.

In der Agilität existieren natürlich auch Pläne. Dies ist der Unterschied zur Spontanität. Aber diese Pläne sind nicht allumfassend. Menschen und Unternehmen, die agil arbeiten, akzeptieren, dass sie nicht alles zu 100 Prozent vorhersagen können. Aber sie können die nächsten Schritte konkret planen. Spätere Schritte dürfen noch als vage Idee formuliert sein. Treten jetzt Veränderungen auf, können sie auf diese reagieren, ohne den allumfassenden Plan wegwerfen zu müssen. Dies spart Zeit und Geld und als Kunde kann man sogar seine Anforderungen iterativ der neuen Situation anpassen.

Aber das Leben besteht nicht nur aus Softwareentwicklung

Das stimmt, aber agile Methoden kann man außerhalb der Softwareentwicklung einsetzen. Am besten verdeutlicht das das Cynefin-Framework.

Cynefin-Framework

Dieses Framework teilt unabhängig von der Softwareentwicklung alle Probleme, Situationen oder Systeme in folgende 5 Bereiche ein:

Einfache Systeme

Die Ursache-Wirkung-Beziehung ist in einfachen Systemen bekannt oder offensichtlich. Für solche Situationen lassen sich sogar Maschinen bauen oder Programme schreiben, um das Ganze zu automatisieren. Der Einsatz von agilen Methoden ist hier nicht notwendig und würde lediglich ungenutzten Overhead produzieren. Ein einfaches Beispiel hierfür ist die Aufteilung der Münzen bei der Rückgabe von Wechselgeld.

Komplizierte Systeme

Ein Beispiel für ein kompliziertes System ist ein Flugzeug. In komplizierten Systemen ist die Ursache-Wirkung-Beziehung aufgrund von mangelndem Verständnis nicht mehr gut strukturiert. Der Laie kann nicht vollständig erklären, warum ein tonnenschweres Flugzeug tatsächlich fliegen kann. Experten können hier helfen, das Verständnis zu verbessern. Aber auch der Einsatz von agilen Methoden kann hier zu weiteren Ursache-Wirkung-Beziehungen führen. Otto Lilienthal oder die Brüder Wright waren bestimmt nicht von Anfang an Experten, sondern haben durch “Inspect & Adapt” ihre Erfahrungen mit Flugzeugen immer weiter verbessert.

Komplexe Systeme

Lebewesen oder Organisation sind meist offene und lebendige Systeme und damit komplex – so wie es z. B. auch die heutige Softwareentwicklung ist. Hier sind Ursache und Wirkung uneindeutig oder sogar mehrdeutig. Für solche Arten von Systemen ist Agilität ideal. Wir versuchen Muster abzuleiten, um mit dem System besser umgehen zu können. Haben wir genügend Erfahrung gesammelt, dann kann auch ein komplexes System zu einem durch Experten beherrschbares kompliziertes System werden.

Chaotische Systeme

In chaotischen Systemen ändert sich die Ursache-Wirkung-Beziehung beständig. Innerhalb dieser Systeme können wir lediglich handeln und reagieren. Anpassungen und mögliche Verbesserungen durch Agilität sind durch die Unbeständigkeit eher dem Zufall geschuldet als dem Optimierungsgedanken. Ein Beispiel hierfür ist das Spielen mit Kindern. Als Erwachsener Mitspieler merkt man recht schnell, dass sich die Spielregeln ständig ändern. Ein vorheriges Lernen der Regeln ist nicht möglich. Man spielt direkt los. Wenn das Spiel den Kindern keinen Spaß mehr macht, dann wird das Spiel angepasst. Es gelten also spontan andere Regeln, die auch nur zeitweise Gültigkeit besitzen. Hier scheitert der Versuch, ein Experte in diesem System zu werden, unweigerlich.

Systeme der Unordnung bzw. Störung

In solchen Systemen existiert die totale Verwirrung bezüglich der Ursache-Wirkung-Beziehung. Dadurch ist nicht klar, zu welchem der anderen vier Bereiche sich das System zuordnen lassen könnte. Ich bin mir sicher, dass solche Systeme existieren, aber Beispiele hierfür sind schwer zu finden. Ist man möglicherweise mit einer solchen Situation konfrontiert, merkt man meist schnell, dass sich die Situation durch Zuwachs von Informationen in eine der anderen Kategorien einordnen lässt.

Was bringt mir denn Agilität überhaupt?

Bei tarent als Dienstleister für Individualsoftware erleben wir in unserer täglichen Arbeit, welche positiven Auswirkungen es hat, wenn Menschen agil denken und Unternehmen agiles Arbeiten unterstützen.

Kunden verkürzen ihre Time-to-Market und Anpassungen finden regelmäßiger statt

Erstellt man Software, Produkte oder sonstige Artefakte auf agile Art und Weise, so wird recht schnell offensichtlich, dass lange Veröffentlichungszeiträume, in denen neue Erweiterungen bereitgestellt werden, kontraproduktiv sind. Durch schnellere, zeitnahe Veröffentlichungen steigert man wirtschaftliche Auswirkungen messbar. So kann z. B. Software bereits mit einem initialen Funktionsumfang genutzt werden und produziert bereits erste Erfolge und Erträge. Nach und nach werden dann Erweiterungen und Funktionen bereitgestellt. Stets ein funktionstüchtiges Artefakt mit erweitertem Funktionsumfang nach jeder Iteration zu erhalten, ist ein wichtiger Grundgedanke in der agilen Arbeitsweise nach der SCRUM-Methode. Dadurch ist es möglich, schneller auf neue Marktsituationen zu reagieren, die z. B. durch die Konkurrenz entstehen können.
Fehler können schneller behoben werden
Wir alle sind Menschen und Menschen machen nun einmal Fehler. Agilität führt nicht zu weniger Fehlern als in der klassischen Arbeitsweise. Allerdings wird mit diesen Fehlern in der agilen Welt transparent und offen umgegangen. Durch die oben erwähnten häufigen Iterationen und Anpassungen können diese Fehler schneller erkannt und mit deutlich weniger Aufwand behoben werden und ziehen keine wochen- oder monatelange Nacharbeit nach sich. Der wohl wichtigste Aspekt am agilen Arbeiten ist der explizite Zeitrahmen für Verbesserungen. Durch diese Retrospektiven können nicht nur Verbesserungen in den erstellten Artefakten selbst angegangen, sondern auch generell der Prozess in der Zusammenarbeit verbessert werden.

Schmerzen werden gelindert, Erfolg gesteigert

Unsere Erfahrung zeigt klar: auch Unternehmen, die selbst bisher nicht agil waren oder nur dachten es zu sein, finden schnell Freude an Agilität, wenn sie die Ergebnisse und Folgen im eigenen Alltag erleben und auch in ihren eigenen Zahlen sehen. Daher mein Rat an Sie: Wenn Sie merken, dass Ihre Arbeitsabläufe stocken und Ihre Prozesse verzögern oder wenn Sie das Gefühl haben, dass sich Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu wenig engagieren, versuchen Sie es mit dem agilen Ansatz. Wir beraten Sie gerne oder führen Sie in einem kurzweiligen Workshop in die agile Welt ein. Schauen Sie mal in unser Angebot von Workshop rund um Agilität oder nehmen Sie unverbindlich Kontakt mit uns auf!